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Digitales Fasten – Wie ich von meiner Social-Media-Sucht runter kam

geschrieben von Mark Kreuzer

Ich wohne im Rheinland. Das heißt, bei uns ist zu Karneval immer einiges los. Ich selbst bin jetzt nicht der riesige Jeck, aber wenn man hier aufwächst, kann man sich der 5. Jahreszeit nie ganz entziehen. Historisch gesehen ist Karneval die Zeit vor der sechswöchigen Fastenzeit, die am Aschermittwoch beginnt und dann zum Osterfest wieder endet.

Ich bin zwar christlich erzogen worden, aber würde mich jetzt nicht als besonders religiös bezeichnen. Unabhängig davon gibt es zur Karnevalszeit auch immer wieder Artikel im Internet die die positive Auswirkung von Fasten auf den Körper beschreibt.

Es gibt viele verschiedenen Arten von Fasten. Vom Ursprung her war der Gedanke, in der Fastenzeit auf einige Lebensmittel wie Fleisch, Milchprodukte und Eier zu verzichten. Über die Jahre hat sich daraus die Tradition entwickelt, auf Genussmittel wie Fastfood, Alkohol oder Tabak zu verzichten. Egal, auf was man jetzt spezifisch während der Fastenzeit verzichtet, die Gemeinsamkeit ist, dass man etwas wählen soll, was einem schwer fällt.

Als ich den Kölner Rosenmontagszug auf der Couch geschaut habe, ist der Gedanke bei mir entstanden, dass ich doch auf Social Media verzichten könnte. Den Gedanken habe ich im ersten Moment schnell wieder verworfen. Denn im ersten Moment kam mir der Gedanke geradezu lächerlich vor.

In den Tagen bis Aschermittwoch ist der Gedanke dann doch in meinem Hinterkopf geblieben und hat dort weiter gewerkelt. Tatsächlich habe ich mir auch ein wenig genauer die Apple iPhone Bildschirmzeit-Funktion angeschaut.

Dabei ist mir aufgefallen, dass ich pro Woche ungefähr 10 Stunden auf Twitter, Instagram und Facebook auf meinem Handy verbracht habe. Besonders überrascht hat mich, dass ich die meiste Zeit auf Twitter pro Woche verbracht habe (dicht gefolgt von Instagram). Das war insofern für mich verwunderlich, als dass ich kaum tweete und interagiere.

Kurzschlussentscheidung am Aschermittwoch

Am Aschermittwoch früh morgens habe ich mich, ohne das ganze Projekt wirklich durchdacht zu haben, dazu entschlossen, alle Social-Media-Apps von meinem iPhone zu löschen.
Folgende Apps sind sofort gelöscht wurden:

  • Facebook
  • LinkedIn
  • Instagram
  • Twitter

Nachdem ich die Apps von meinem Smartphone gelöscht habe, habe ich zusätzlich auch noch entschieden, dass ich niemandem von meiner Fastenzeit erzählen möchte. Um ehrlich zu sein, war der Hauptgrund dafür, dass ich sehr skeptisch war, wie lange ich das Fasten durchhalten würde. Insgeheim habe ich mir selbst maximal zwei Wochen gegeben, welche ich aber auch wirklich durchhalten wollte.

Cold Turkey – Kalter Entzug

Sicher habt ihr auch schon mal den Begriff „Cold Turkey“ gehört. Zu Deutsch spricht man gerne vom kalten Entzug. Gemeint ist damit ein plötzliches Absetzen von körperlich abhängig machenden Substanzen wie Alkohol oder Opiaten. Das auch Social Media eine solche „Substanz“ sein kann, ist mir direkt am ersten Tag sehr deutlich aufgefallen. Konsequenz eines kalten Entzugs sind seelische oder auch körperliche Entzugssyndrome, die je nach Suchtmittel und Ausprägung der Abhängigkeit stark variieren können.

Persönlich habe ich mich am Anfang des Selbstversuchs für nicht besonders abhängig gehalten. Ich meine, schließlich sind ja die meisten meiner Freunde und Bekannten auch auf den verschiedenen Plattformen unterwegs.

Das ich vielleicht doch abhängiger war, als ich für möglich gehalten hab, ist mir direkt am ersten Tag aufgefallen. Es ist jetzt nicht so, dass ich körperliche Entzugserscheinungen gehabt hätte, aber seelisch bzw. mental sah die Sache schon ganz anders aus.

Aufgefallen ist mir in den ersten Tagen, dass ich sehr oft das Handy in die Hand genommen habe und es vielleicht sogar entsperrt habe nur um dann zu merken, dass ich eigentlich gerade gar nicht weiß, warum ich es eigentlich in der Hand halte.

Neben dem Entzug auf dem Smartphone habe ich mir auch vorgenommen, alle sozialen Netzwerke auf dem PC zu meiden.

[Photo credit: PlusLexia]

FOMO – was mir am schwersten gefallen ist

Die größten Schwierigkeiten hat mir das so genannte FOMO-Phänomen bereitet. FOMO steht für Fear of missing out, zu Deutsch: Angst, etwas zu verpassen.

Dabei handelt es nicht wirklich um ein neues Phänomen. Die Sorge, etwas zu verpassen, ist so alt wie die Gesellschaft selbst. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist ein menschliches Bedürfnis, sodass das Gefühl zu fehlen Unbehagen auslösen kann.

Technische Geräte und Social Media haben diese Angst noch deutlich verstärkt. Viele Menschen verspüren einen Druck, ständig im Netz dabei sein zu müssen. Dass die Medien jederzeit zugänglich sind, führt dazu, dass die Gesellschaft jederzeit und auch ortsunabhängig erreichbar ist.

Beim Fasten ist mir dann auch aufgefallen, wie die Sozialen Netzwerke dafür sorgen, dass man auch ja möglichst oft und viel Zeit auf ihnen verbringt. Erinnert ihr euch noch, wie groß der Aufschrei bei Facebook — und bei Instagram noch viel mehr — war, als von einer chronologischen Anordnung von Posts und Statusmeldungen auf einen Algorithmus umgestellt wurde?

Heute ist das mehr oder weniger allgemein akzeptiert, dass Posts nach einer undurchschaubaren Anordnung präsentiert werden. Ein Effekt davon ist, dass man ggf. wirklich wichtige Nachrichten verpassen könnte: ich erinnere mich hierbei daran, dass jemand nicht mitbekommen hat, dass ein Facebook-Freund verstorben ist, weil der Algorithmus die Verbindung zu dem User und die Nachricht selber nicht als relevant erachtet hat. Ein anderer ist, dass hierdurch bei jedem neuen Öffnen der App ein neues Bouquet an Posts und Bildern präsentiert wird. Primitiv, wie unser Gehirn ist, freut es sich einen Ast und sorgt dafür, dass das Belohnungszentrum im Gehirn reagiert. Schließlich sehen wir schöne neue bunte Sachen und das mag das Gehirn.

Das führt natürlich dazu, dass viele von uns ständig das Handy in die Hand nehmen, um mal eben durch den Feed zu wischen und zu schauen, was sich alles so getan hat und damit wir bloß nix verpassen.
Interessant fand ich bei meiner Recherche zu dem Thema, dass FOMO sowohl bei Menschen auftritt, die soziale Medien nur gelegentlich verwenden, als auch bei denen, die es exzessiv nutzen.

Symptome FOMO

Laut Wikipedia sind die folgenden Punkte erste Symptome:

  • Man ist traurig, wenn Freunde sich treffen und Spaß haben und man nicht dabei ist.
  • Man hat Angst, dass die Erfahrungen von Freunden oder anderen Menschen besser sind als die eigenen.
  • Man fühlt sich unruhig und nervös, wenn man nicht weiß, was die Freunde im Moment treiben.
  • Wenn man etwas unternimmt, möchte man es anderen online mitteilen, zum Beispiel auf Social Media-Plattformen.
  • Man ist sehr häufig und routiniert in sozialen Netzwerken, auch während des Essens oder in Gesellschaft.
  • Man hat Konzentrationsprobleme beim Lernen oder Arbeiten, weil man den Drang verspürt, dort online zu sein.
  • Man hat während des Autofahrens das Bedürfnis zur Handynutzung.

Warum posten wir? Oder wer hat den längsten …

Meiner Meinung nach haben Trends wie zum Beispiel Instagram-Stories den Effekt noch mal um einiges verstärkt. Zumindest ich hatte oft in der Vergangenheit dazu tendiert, viel mehr über mein Leben bei Stories zu posten als je zuvor. Das angenehme bei Stories war ja, das sie nach 24h wieder verschwinden und je nach Hashtag hatte man auch als normaler User die Chance auf tausende Views.

Rückbetrachtend habe ich fünf der sieben Symptome erfüllt. Ich kann noch nicht mal behaupten, dass mich zum Beispiel das Rumhängen auf Instagram besonders glücklich gemacht hat. Als ich mit Instagram angefangen habe, war es vor allem für mich als eine Art Bilderbuch mit schönen Momenten und Erinnerungen gedacht. Wenn ich mir das Ganze jetzt so ansehe, bin ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob das nur noch der einzige Grund zum Posten war. Gerade bei den Stories wollte man doch irgendwie allen zeigen, was man für ein schönes Leben hat. Sicher ist dies nicht ausschließlich der Grund für einen Post, aber wenn ich das jetzt reflektiere, dann habe ich doch immer nur ein Best-Of aus meinem Leben gepostet.

Fastenzeit Fazit: Sozial Media – Gut oder Böse?

Ich hab ein wenig Sorge, dass das hier alles ein wenig in einen Rant auf Sozial Media ausartet, das ist eigentlich gar nicht meine Absicht gewesen. Tatsächlich glaube ich durchaus daran, dass nicht alles an den Netzwerken schlecht ist.

Ich habe die Fastenzeit tatsächlich komplett durchgehalten und auf die Apps auf meinem Handy verzichtet. Tatsächlich habe ich, nachdem ich die ersten zwei/drei Wochen überstanden habe, schnell gemerkt, dass es mir sogar gut getan hat, auf die Apps zu verzichten. Bei der Arbeit habe ich kaum noch auf das Handy geschaut, teilweise habe ich das Smartphone sogar liegen lassen, wenn ich mal kurz weggegangen bin — eine Sache, die mir sonst nie passiert ist.

Meine größte Sorge, dass ich weniger Umgang mit meinen Freunden haben würde, hat sich auch nicht bestätigt. Tatsächlich hat sich keiner bei mir gemeldet und gefragt, ob alles bei mir gut sei. Das hat mich vielleicht ein wenig schockiert.

Abgesehen davon bin dazu übergegangen, Freunde anzurufen und mich mit denen im echten Leben zu treffen. Tatsächlich häufiger als zuvor. Spannend und komplett neu für mich war die Erfahrung, dass ich gar nicht wusste, was die so gemacht haben und die auch nicht wussten, wo ich so war und was ich erlebt habe. Das war in der Vergangenheit anders.
Was mich bei dem ganzen Experiment aber am meisten überrascht hat ist die Tatsache, dass ich mir nach Ostern keine der oben genannten Apps wieder auf meinem Handy installiert habe.

Die Dosis macht das Gift

Genau genommen geht das Zitat von Paracelsus anders: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.“

Worauf ich hinaus will, dürfte wohl schnell klar sein. Ich habe meinen Instagram-, Facebook- und Twitter-Konsum nicht eingestellt, aber ich habe ihn im Vergleich zu vorher deutlich reduziert.

Ich habe die Apps auf meinem iPad und schaue dort abends mal gelegentlich rein. Auch an meinem Arbeitsrechner schaue ich immer mal wieder auf den Seiten kurz rein. Der Hauptunterschied zu früher ist, dass ich es jetzt ganz bewusst mache.

Ich hab nach langer Zeit auch wieder mal was gepostet. Tatsächlich, weil das Grillen gestern ein schöner Moment für mich war. Was mir aufgefallen ist: Wie ich dann nach dem Post doch unruhig wurde, weil ich wissen wollte, wie viele Likes das Bild wohl bekommen würde und von wem. Klar habe ich das auch nachgesehen, aber nicht wie früher alle fünf Minuten, sondern einfach abends, als ich das iPad eh wieder in der Hand hatte.

Der Artikel ist doch deutlich länger geworden als ich es für möglich gehalten habe und ich hoffe, das meine Message ein wenig klar geworden ist.

Ich denke den meisten von uns tut es ganz gut, den eigenen Sozial-Media-Konsum mal kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren. Ich glaube nicht, dass jeder so einen krassen Entzug machen muss wie ich. Aber es kann sicher nicht schaden, Benachrichtigungen auszuschalten.
Mich würde ja interessieren, wie ihr zu dem Thema steht und was eure Strategien sind? Ich würde mich über euren Kommentar freuen.

Über den Autor

Mark Kreuzer