Ausgerechnet am Jahrestag des verheerenden Erdbebens in Mexiko vor 32 Jahren wird der mittelamerikanische Staat von einem neuen Beben der Stärke 7.1 erschüttert. Nach den bisher vorliegenden Angaben sollen fast 250 Menschen ums Leben gekommen sein, darunter viele Kinder. Die Zahl dürfte noch steigen, viele Gebäude liegen in Trümmern.
Eine Vielzahl von Toten und Verletzten ließe sich zukünftig vermeiden, wenn es ein funktionierendes Frühwarnsystem gäbe. Derart schweren Erdbeben gehen in der Regel Vorbeben voraus, die für den Menschen kaum spürbar sind oder nicht als Gefahr wahrgenommen werden. Oftmals liegt das Epizentrum der Vor- oder des Hauptbebens in unerreichbaren Meerestiefen, hunderte oder tausende Kilometer vom eigentlich gefährdeten Gebiet entfernt.
Wissenschaftler versuchen seit Jahrzehnten, ein Erdbeben möglichst früh vorherzusagen. Hochleistungsrechner sind längst in der Lage, mehr oder weniger zuverlässig Modelle zu berechnen, aus denen sich sowohl eine bestimmte Systematik als auch ein dann stattfindender Verlauf eines bebens in bestimmten Zeitfenstern ablesen und vorhersagen lässt. Allein: es scheitert an den Daten. Die gerade in bekannten Erdbebenregionen installierten Messpunkte und Sensoren liegen oft immer noch viel zu weit auseinander, zudem landen die Daten oft nicht schnell genug in den Laboren.
Die “Sozialisierung” von Fahrzeugsensordaten
Ein dichtes Netz aus vernetzten “Smart Cars” könnte diesen Zustand innerhalb kürzester Zeit ändern – sofern die Hersteller mitspielen. Die in modernen Fahrzeugen eingebauten Sensoren messen heute während der Fahrt kleinste Veränderungen und stimmen z.B. das Verhalten des Fahrwerks oder anderer elektronischer Bauteile auf die erfassten Daten ab. Theoretisch wie praktisch wären die Systeme in der Lage, dies auch im geparkten Zustand zu tun.
Auf diese Weise könnten zehntausende, hunderttausende oder mehrere Millionen Smart Cars mittel- bis langfristig ein dichtes Netz von Sensoren bilden, mit denen permanent eventuelle Erschütterungen des Erdbodens überwacht würden. Da die Fahrzeuge herstellerübergreifend miteinander und mit einer “Automotive Cloud” vernetzt sind, könnten diese Daten in Echtzeit übertragen und ausgewertet werden.
Im “Science Advances” Magazin stellte ein Team der University of California in Berkeley und der Telekom Innovation Laboratories bereits im vergangenen Jahr die App “MyShake” vor, die in Zukunft Beben registrieren und sodann beim Nutzer Alarm schlagen soll. Die Software soll in der Lage sein, seismische Wellen von normalen Erschütterungen zu unterscheiden und könnte gerade in Regionen mit schwach ausgebautem Erdbebenwarnsystem sinnvoll sein.
Speziell programmierte Algorithmen könnten die Relevanz der Daten analysieren und einordnen, ob es sich um “typische” Erschütterungen eines Vorbebens handelt. Da die Fahrzeuge zudem teilanonymisiert ihren Standort zu einem bestimmten Zeitpunkt übertragen, ließe sich in Windeseile eine geographische und zeitliche Systematik erkennen, aus dem man die Region und den chronologischen Ablauf eines drohenden Erdbebens ableiten könnte.
Die Voraussetzungen sind gegeben, in anderen Bereichen werden ähnliche Vorhaben bereits realisiert. So will Volkswagen in Zukunft Wetterdaten mit dem Stromnetzbetreiber TenneT austauschen, die – in “Real Time” entsprechend ausgewertet – einen Einfluß auf die Stabilität von Stromnetzen haben können. Ähnliche Partnerschaften sind nahezu beliebig denkbar, vielleicht liefern die Regensensoren von “Smart Cars” zukünftig die Daten für eine besonders genaue Wetter-App?
Die herstellerübergreifende Freigabe von Fahrzeugsensordaten spielt auch auf Plattformen wie HERE Technologies eine zentrale Rolle, beschränkt sich allerdings dort – nach jetzigem Stand – noch auf die dort beteiligten Partner. Städte und Kommunen könnten in Zukunft ein vernetztes Verkehrsleitsystem mit den Daten von hunderttausenden Fahrzeugen speisen, zudem könnten Stadtplaner auf die gewonnen daten zugreifen und sie beim bau neuer Straßen nutzen.
Eine vollständige Freigabe von Sensordaten für öffentliche oder wissenschaftliche Einrichtungen wie ein Erdbebenfrühwarnsystem würde nicht nur Menschenleben retten, auch die Hersteller könnten davon profitieren. Ein nicht unerheblicher Teil von Menschen macht sich Sorgen um den Datenschutz, das führt zu einer generell skeptischen Einstellung gegenüber den zukünftig von Fahrzeugen gesammelten Daten. Ein Grund ist, dass es Unklarheiten über die Verwendung der Daten gibt. Wenn die Hersteller und Zulieferer konkrete Beispiele für den gesamtgesellschaftlichen Nutzen der gewonnen Daten schaffen, wird diese Skepsis abnehmen. Dann hätte man eine Diskussionsgrundlage über den “Sinn” der Daten und könnte individuell entscheiden, ob man als Fahrzeugbesitzer Teil eines “großen Ganzen” zum Wohle aller sein will.