Wir sind ja hier unter uns, deswegen kann ich es euch sagen: Ich halte den britischen Premierminister Boris Johnson für eine unfassbare Wurst und für so circa die letzte Person auf der Insel, die imstande ist, eine Nation anzuführen. Er ist laut, peinlich und — das ist das Schlimmste — einfach nicht kompetent genug. Er hat die Menschen angeschwindelt vor den Brexit-Abstimmungen und damit dazu beigetragen, dass Großbritannien überhaupt erst in dieser misslichen Lage ist, in der es sich seit einigen Jahren befindet.
Wenn so ein Mensch sich auf den Weg macht, bei europäischen Regierungschefs für seine Brexit-Pläne zu werben, darf man von vornherein nicht viel erwarten. Sein Auftritt bei Angela Merkel inklusive seines „Wir schaffen das“-Gags haben das relativ eindrucksvoll bewiesen. Die nächste Station war dann Emmanuel Macron in Frankreich. Hat er dem französischen Staatschef irgendwas anbieten können? Nein, das nicht. Aber dafür hat er der den Medien beste Munition geliefert, als er nämlich beim Gespräch mit Macron äußerst rüpelhaft seinen Fuß auf den Tisch stellte (siehe Artikelbild).
Wie die Medien und die Leute auf Facebook und Twitter reagiert haben, könnt ihr euch natürlich vorstellen. Auch ich fühlte mich im Grunde nur nochmals bestätigt, was für eine unangenehme Pfeife dieser Johnson ist, ich gebe es zu. Zumindest solange, bis ich die ganze Szene als Bewegtbild sah und dazu die Story hörte, die auf einmal ein ganz anderes Bild ergab. Schaut euch folgenden Tweet inklusive Video an:
WATCH: Here’s the Reuters video of Boris Johnson putting his foot on the Elysee furniture. It seems President Macron was making small talk suggesting the table would work equally well as a footstool should the PM want to recline, which Johnson then jokingly does pic.twitter.com/dnv37t9mS4
— Tom Rayner (@RaynerSkyNews) August 22, 2019
Wie ihr sehen könnt, hatte er nicht mal eine halbe Sekunde seinen Fuß auf diesem Tisch und macht anschließend noch eine beschwichtigende, entschuldigende Geste Richtung Presse. Alles also nicht so gemeint. Noch deutlicher wird das, wenn man weiß, wie die Vorgeschichte dazu war: Es war Macron, dem ein wenig nach Smalltalk zumute war und der mit Johnson über den Tisch sinnierte und feststellte, dass der auch eine prima Fußablage abgeben würde. Der britische Premier ist also lediglich mit einem Gag auf sein Gegenüber eingegangen. Kein Grund also, sich über diese Szene künstlich zu echauffieren.
Deswegen halte ich ihn natürlich dennoch für einen Penner, aber eben für einen, der in diesem Fall nichts wirklich Schlimmes verbrochen hat. Das ist ein ganz aktuelles Beispiel dafür, wie schnell etwas aus dem Kontext gerissen und als etwas komplett anderes betrachtet wird, als es der Wahrheit entspricht.
Wir müssen alle ein bisschen Journalist sein
Das ist der Grund, wieso ich in der Headline fordere, dass wir alle ein klein wenig wie Journalisten arbeiten müssen. Wir bilden uns unsere Meinungen, wir sind von etwas begeistert oder empört, wir versuchen andere zu belehren und von unserer Meinung zu überzeugen und wir werfen uns für unseren Standpunkt und die vermeintlich richtige Sache immer wieder in die Schlacht.
All das funktioniert aber nur, wenn wir wissen, wovon wir sprechen. Ich fasse mir dabei natürlich an die eigene Nase. Auch ich merke, wie mein Puls ansteigt, wenn ich wieder einmal eine reißerische Headline erblicke, die mich in meinem Weltbild bestätigt. Wie ihr vermutlich wisst, bin ich kein sonderlich großer Trump-Fan (und das ist schon die diplomatische Umschreibung). Wenn mir eine Überschrift erzählt, was der Vogel jetzt schon wieder getan oder gesagt hat, fühle ich mich in meinem Denken bestätigt.
Aber genau das ist eben falsch! Man muss eben dennoch erst den Artikel zur Headline lesen. Vielleicht reicht das sogar noch nicht mal, wie das Johnson-Beispiel belegt. Anderes Beispiel: Carsten Linnemann ist CDU-Politiker und war bis vor kurzem medial ein unbeschriebenes Blatt. Dann gab er der Rheinischen Post ein verhängnisvolles Interview. Verhängnisvoll deswegen, weil es hinter einer Bezahlschranke war.
Es ging darum, dass viele Kinder nur wenig oder sogar gar kein Deutsch sprechen können, wenn sie eingeschult werden. „Kind ohne Deutschkenntnis kann nicht in die Grundschule“ titelte RP Online. Das Originalzitat war für die Masse nicht lesbar, diese Headline aber eben schon. Es gab den erwartbaren Shitstorm, nicht wenige sahen Linnemann eher in AfD-Nähe als der CDU angehörig mit seinem vermeintlich rassistischem Statement.
Fakt ist, dass er das so natürlich nicht gesagt hat. Wer das tatsächliche Statement lesen möchte, sollte unbedingt bei Indiskretion Ehrensache vorbeilesen, denn dort hat Thomas den Fall sehr schön aufgebröselt und auch die entsprechende Passage des Interviews eingebunden. Man kann seine tatsächliche Äußerung — dass entsprechende Kinder vorab geschult werden müssten, oder zur Not erst auf der Grundschule zurückgestellt werden — politisch immer noch falsch finden, aber es bleibt nichts mehr vom AfD-Duktus übrig, den man Linnemann andichtete.
Das erste Beispiel mit Johnson konnte man noch leicht umschiffen, indem man einfach direkt auf zwei, drei andere große Zeitungen schaut und sich das Video ansieht. Beim Linnemann-Beispiel ist es schwieriger, weil es da erst einmal ein wenig dauert, bis das tatsächlich Gesagte richtig eingeordnet wird und dann nicht nur hinter der Bezahlschranke versauert. Das Einzige, was man da machen kann, wenn man es nicht wirklich verifiziert bekommt? Ja genau — die schwierigste Übung von allen: Abwarten!
Manchmal lohnt es sich dann eben tatsächlich, dass man nicht der ersten Wut oder Empörung nachgibt, sondern sich sowohl die Mühe macht, als auch die Zeit nimmt, um die tatsächliche Situation zu verifizieren.
Aber das war doch früher auch nicht so …
Ja, ja — früher. Stimmt, früher war alles anders. Auch da gab es schon mal Falschmeldungen in den Zeitungen, aber generell war die mediale Welt vor dem Internet eben eine komplett andere. Es schaffte nicht jede Lappalie in die Zeitung, weil der Platz dort und der Redaktionsschluss natürliche Grenzen setzten. Außerdem gab es eben auch keine sozialen Medien, in denen man rasend schnell eine falsche oder falsch gedeutete Nachricht verbreiten konnte.
Wir dürfen also nicht alles blind schlucken, was uns vorgesetzt wird, aber darüber haben wir hier ja schon oft geredet, Stichwort Medienkompetenz. Wir können auch heute noch rumpoltern und dürfen Dinge grundlos scheiße finden wie seinerzeit am Stammtisch — überhaupt kein Thema. Aber wir müssen uns wenigstens ein Bild von dem machen, über das wir uns dann später auslassen. Wir befinden uns in einer Zeit, in der nicht nur Populisten das Verbreiten von postfaktischen Nachrichten als probates Mittel erkannt haben. Deepfakes werden noch ein Riesen-Thema, Freunde. Wenn ihr ein perfektes Fake-Video eines Politikers vorgesetzt bekommt mit einer Aussage, die er angeblich getätigt haben soll: Wie wollt ihr das erkennen, wenn ihr noch nicht mal einen geschriebenen Text richtig deuten oder verifizieren könnt?
Ich mache mir derzeit ja viele Feinde mit meiner Meinung zu FridaysForFuture und Greta Thunberg. Da blickt man wieder in Aluhut-Abgründe und wird mit Links zu jeder Menge Fakes förmlich zugeschissen. Leute, die nicht eine Sekunde Zeit haben, um über ein Argument nachzudenken, hab ich irgendwie sowieso schon abgeschrieben, daran verschwende ich kaum noch einen Gedanken. Aber all die anderen — also wir alle, ich schließe mich da explizit mit ein — müssen uns jetzt tatsächlich am Riemen reißen. Wir können nicht den Kopf schütteln, wenn wir sehen, dass die Chinesen im eigenen Land mit Fakes Stimmung gegen die Demonstranten in Hong Kong machen und dann fünf Sekunden später gedankenlos Beiträge zu den Waldbränden im Amazonas-Gebiet teilen, die gespickt sind mit Fotos, die viele Jahre alt und oft von ganz anderen Locations stammen.
Vermutlich ist das eine zweiteilige Aufgabe, die da vor uns allen liegt: Wir müssen also in der Lage sein, eine News auf ihren Wahrheitsgehalt abklopfen zu können — aber vorher müssen wir erst einmal gelassener, gechillter werden. Wir wollen nicht, dass andere laut durchs Netz brüllen und uns mit falschen Fakten irritieren — also sollten wir eben mit gutem Beispiel vorangehen. Gründlich lesen, andere Quellen checken, abwarten — eigentlich ist es ganz leicht. Und ja, Boris Johnson ist trotzdem eine Pfeife.