Gestern war Jom Kippur – der höchste jüdische Feiertag. Genauer gesagt beginnt dieser Feiertag bereits am Vorabend nach Sonnenuntergang und geht dann bis zum Abend des eigentlichen Feiertags. Juden fasten an Jom Kippur 25 Stunden lang und so wie bei Christen, die sich oftmals lediglich an Weihnachten in einer Kirche einfinden, gibt es auch viele Juden, die sich außer an Jom Kippur nur selten in eine Synagoge verirren. Soll heißen: Wenn jemand just an diesem Tag eine Synagoge angreifen will, dann mit dem Wissen, dass dort definitiv mehr Menschen anzutreffen sind als an normalen Tagen.
Ich gebe es zu: Als ich gestern neben der Arbeit den Fernseher laufen hatte und die aktuellen Nachrichten für mich bis zur Meldung aus Halle nur ein Hintergrundrauschen darstellten, dachte ich nicht daran, dass die Juden diesen hohen Feiertag begehen. Ich hatte es schlicht nicht auf dem Schirm. Ich war voller Vorfreude, weil ich abends ein Fußballspiel zwischen Deutschland und Argentinien sehen würde, war mit meiner Arbeit beschäftigt und angesichts der Berichterstattung im TV ärgerte ich mich mal wieder maßlos über Trump und Erdogan.
Schlagartig veränderten sich die Dinge, als die Meldung aus Halle die Runde machte. Was dort geschehen ist, muss ich vermutlich niemandem hier jetzt nochmal erzählen, wir haben es alle mitbekommen. Ich habe natürlich nicht sofort von n-tv weggeschaltet, wollte ja erfahren, was dort gerade geschieht bzw. geschehen ist. Aber es dauerte nur wenige Minuten, bis ich mich dann doch wieder angewidert vom Sender abwenden musste.
Ich schreibe „wieder“, weil ich zwar Nachrichten-Junkie bin und täglich viel zwischen n-tv, WELT und vor allem phoenix hin und her zappe, aber mich über diese Live-Berichterstattungen bei Katastrophen regelmäßig das kalte Kotzen bekomme und mich auch wiederholt schon darüber echauffiert habe.
In den sozialen Medien, aber auch in vielen Interviews seit gestern Nachmittag habe ich viele Stimmen gehört, die äußerten, dass wir alle — also die ganze Bevölkerung — jetzt gefragt sei. Wir alle sollen uns also deutlich gegen Rechtsextremismus, gegen Antisemitismus und generell gegen Hass gegenüber Andersgläubigen positionieren sollen. Wir sollen Zivilcourage zeigen (natürlich nicht, wenn ein Waffen-bepackter Mensch vor einem steht, aber zum Beispiel, wenn wir beobachten, dass jemand öffentlich verbal angegangen wird).
Dadurch, dass wir alle die Augen offen halten und zeigen, dass uns eben nicht alle anderen scheißegal sind, können wir auf der einen Seite dafür sorgen, dass übergriffige Personen in der Öffentlichkeit in ihre Schranken gewiesen werden. Wir können — und das ist vielleicht sogar noch wichtiger — auf der anderen Seite Menschen wie den Täter durch unsere gesteigerte Aufmerksamkeit eventuell eher bemerken. Die Polizei und die Politik kann nicht erkennen, wenn sich jemand in seinem Zimmer zuhause vorm Rechner selbst radikalisiert. Zumindest diesen Vorwurf darf man hier wohl nicht machen.
Bestenfalls sollten Menschen aus dem Umfeld erkennen, dass sich eine Person — aus welchem Grund auch immer — an den Rand der Gesellschaft gepresst fühlt. Aber machen wir uns nichts vor, das dürfte ziemlich illusorisch sein und nur in Einzelfällen gelingen. Was können wir stattdessen tun? Vielleicht einfach mal gegensteuern, was die allgemeine Verrohung angeht. Das geht in den sozialen Netzwerken los, endet dort aber leider noch lange nicht.
Ich möchte nicht ausschließlich auf der AfD herumhacken, aber es ist sicher auch dieser Partei und ihren Anhängern geschuldet, dass die Sprache im Jahr 2019 eine andere geworden ist, als sie es noch vor einigen Jahren waren. Grenzen werden ganz bewusst verschoben — im Bundestag, in Interviews und erst recht in den sozialen Medien. Im Jahr 2019 werden in Deutschland Politiker in ihrem eigenen Heim erschossen und Synagogen am helllichten Tag angegriffen. Das hat meines Erachtens auch damit zu tun, dass der Ton generell rauer geworden ist. Ja, das kreide ich auch Rechtspopulisten an, aber da sind in der Tat wir alle gefragt. Mir fällt zum Beispiel immer öfter auf, wie inflationär Konservative oder gemäßigte Rechte als Nazis bezeichnet werden. Fühlt sich anscheinend für viele richtig an, ist es aber nicht und hilft uns in der Sache nicht weiter.
Es geht aber nicht nur um unsere Sprache, sondern generell darum, wie sich unsere Gesellschaft verändert hat. Wir sind heute technisch in der Lage, jederzeit überall Fotos und Videos zu produzieren, können diese auch jederzeit überall senden und empfangen. Auch über diesen Aspekt haben wir uns nicht nur angesichts des Christchurch-Massakers unterhalten.
Es gibt erschreckende Parallelen zwischen Christchurch und Halle und müssen da wohl von einem gewissen Lerneffekt reden oder zumindest davon, dass sich der Täter aus Halle von anderen terroristischen Anschlägen hat inspirieren lassen. Genau deswegen ist es so dramatisch, wenn johlende Zuschauer live auf Twitch, Facebook Live oder sonst wo Attentätern zuschauen können und wenn deren Manifeste eifrig geteilt werden.
Hier sind Plattformen gefragt, technisch gegenzuarbeiten und auch darüber sprachen wir schon häufig. Solange es Live-Footage gibt, solange wird auch immer wieder die Möglichkeit bestehen, dass so ein Verrückter das für seine abartigen Pläne ausnutzt. Facebook, Twitch-Mutter Amazon und andere müssen sich überlegen, wie man solche Streams schnellstmöglich erkennen und offline nehmen kann.
Zusammenfassend können wir also festhalten, dass wir alle gefragt sind, uns gegen Terror und gegen eine Verrohung der Gesellschaft zu stellen, Tech-Konzerne hingegen gefragt sind, uns die entsprechende technische Hilfestellung dafür zu leisten.
Ausgespart hab ich jetzt bislang aber die Medien, denen auch eine wichtige Rolle zukommt. Shame on me, dass ich so ausufernd meine Gedanken hier mitteile und erst recht spät auf den Punkt zu sprechen komme, der mich gestern und heute besonders wütend gemacht hat. Wieder einmal — ich sprach es eingangs bereits an — hab ich mich über die Live-Berichterstattung aufgeregt. Es gibt keine gesicherten Fakten, aber es gibt stundenlange Live-Schalten. Dort gibt es Menschen, die faktisch nichts an neuen Informationen verkünden können, dafür aber Dinge sagen wie „wir wollen natürlich nicht spekulieren“.
In der Folge passiert dann was? Genau — es wird natürlich spekuliert. Egal, ob es um den Tathergang geht, um die Beteiligten oder die Motivation der Tat: Es gibt die absurdesten Theorien und die werden nicht richtiger dadurch, dass man ergänzend erwähnt, dass man natürlich eigentlich nicht mutmaßen sollte. Übermedien hat das in einem Clip mal schön zusammengefasst, wie das gestern bei n-tv aussah:
Ich finde es von mal zu mal abartiger und das sage ich als jemand, der wirklich viele News Tag für Tag in sich aufsaugt und gerne Bescheid weiß, was in der Welt los ist. Fürs Fernsehen ist das oft eine Gratwanderung: Berichtet man so wie gestern, regen sich Menschen wie ich auf, berichtet man nicht, werden sich vermutlich ebenso viele Menschen aufregen.
Es muss aber doch dazwischen eine Mitte geben, oder nicht? Berichtet, wenn ihr was zu berichten habt und nur das, was es tatsächlich zu berichten gibt.
- Erspart uns diese unzähligen Experten, die euch auch nur sagen können, dass man im Grunde noch nichts weiß.
- Erspart uns vor allem die Live-Schalten an den Ort des Geschehens, ans Wohnhaus des Täters usw. Welchen Nachrichtenwert hat es, wenn die Nachrichtensender heute Menschen vor der Synagoge nach ihren Gefühlen befragen und zwischendurch die Einschusslöcher an der Tür der Synagoge zeigen? Welchen Nachrichtenwert hat es, wenn Reporter vorm Haus eines Mörders stehen oder einen Bürgermeister zu dieser Person befragen, die er nie in seinem Leben getroffen hat?
- Erspart uns zudem geheuchelte Ansagen, dass euch — wie in diesem aktuellen Fall — zwar das Video des Täters vorliegt, ihr es aber aus Anstand/Respekt/Ethik nicht zeigt. Ihr sprecht aber dennoch drüber, erwähnt, dass es im Netz die Runde macht, bezieht euch in Gesprächen auf Informationen aus dem Video und nennt und zeigt dennoch den Täter und Clips von Augenzeugen.
Worauf will ich also mit wieder einmal viel zu viel Text hinaus? Wenn ihr in irgendeiner Form verantwortlich seid für diese Form der Berichterstattung: Lasst es verdammt nochmal bleiben! Wenn ihr hingegen lediglich Zuschauer seid so wie ich: Schaltet ab! Es kostet euch Energie und Lebenszeit und ihr seid hinterher kein bisschen klüger. Ich fasse mir da durchaus auch an die eigene riesige Nase, weil ich selbst immer wieder drauf reinfalle und mir zu lange vorgaukeln lasse, dass man mich informieren möchte.
All das sorgt dafür, dass es immer wieder diese Verrückten geben wird, die das Gefühl haben, hier eine gewaltige Bühne nutzen zu können und sich auf eine kranke Art unsterblich zu machen. Es wird solche Menschen leider so oder so geben, das werden wir nie ganz verhindern können. Aber wir können aufhören, sie zu überhöhen und ihnen genau diese Bühne zu bieten, die sie so gerne hätten.
Wir können — und müssen — all die relevanten Themen besprechen, die so ein Anschlag wie der gestern stattgefundene mit sich bringen: Kann so ein Mensch wirklich ein Einzeltäter sein oder hat so ein Terrorist auch immer ein Netzwerk hinter sich, welches ihm Informationen, Waffen oder zumindest Zuspruch und Motivation zu so einer Tat verschafft? Woher kommt dieser Antisemitismus? Müssen wir über Sicherheitskonzepte der Polizei sprechen? Müssen wir auch berücksichtigen, dass es nicht nur Rechtsextreme sind, die sich antisemitisch äußern oder verhalten? Müssen wir auch — so wie in diesem Beitrag geschehen — hinterfragen, was wir alle tun können, damit solche Dinge in unserer Gesellschaft möglichst nicht mehr geschehen? All das können wir mit „Ja“ beantworten, zweifellos. Aber wir müssen eben keine Bühne bieten für solche Gestalten. Die entsprechenden Fernsehsender werden hier nicht reagieren, fürchte ich. Also müssen wir eigenverantwortlich handeln und das bedeutet bei der nächsten schwachsinnigen Live-Schalte: Einfach mal abschalten!