Update: Wir hatten uns gefragt, wo die Messeveranstalter die Grenzen ziehen. Nun wissen wir es: Gehstöcke aus Pappe, Plüschtiere und Vögel aus Styropor gelten als Waffen.
Liebe Gamescom-Veranstalter: Ernsthaft jetzt? Geht’s noch?
Ursprünglicher Beitrag:
Angefangen hatte das Wacken Open Air, weitere Festival- und Konzertveranstalter folgten: Angesichts der Anschläge in Würzburg und Ansbach, sowie des Amoklaufs in München wurden Taschen und Rucksäcke verboten. Dies sollte der Sicherheit dienen. Kann man natürlich machen, aber wenn wir ehrlich sind, dann bringen diese Maßnahmen keine wirkliche Verbesserung der Sicherheit, einzig ein schönes, warmes „wir tun was“-Gefühl für Veranstalter. Wenn sich wirklich jemand mit einer Rucksackbombe in die Luft jagen will, dann tut er es jetzt eben in der wartenden Menge vor dem Einlass und gegen einen gezielten Angriff auf so eine Veranstaltung wie in Paris im Le Bataclan hilft ein Rucksackverbot auch nicht.
Trotzdem hat sich nun auch die Gamescom dieser „Anpassung der Sicherheitsbestimmungen“ angeschlossen. Man verbietet Taschen und Rucksäcke zwar nicht vollständig, man fordert aber die Besucher, Medienvertreter und Aussteller auf, keine Taschen mitzubringen, überhaupt solle man alles daheim lassen, was man nicht zwingend für den Messebesuch bräuchte:
Lasst, wenn nicht zwingend erforderlich, Taschen und Rucksäcke sowie Gegenstände aller Art, die ihr nicht zwingend für den Besuch der gamescom benötigt, bitte zu Hause, um die Wartezeiten so gering wie möglich zu halten. Gamescom
Gegen entsprechende Kontrollen am Einlass ist natürlich nichts einzuwenden und mir stellt sich angesichts dieser Ankündigung eher die Frage, warum solche Kontrollen in der Vergangenheit offenbar unterblieben sind? Bei Konzerten waren Taschenkontrollen schon immer üblich, das Verbot Taschen mitzubringen ist hier damit eine deutlich größere Einschränkung – wenn man zum Beispiel mit dem ÖPNV direkt von Arbeit, Schule oder Sport zu einem Konzert fährt – vor allem in Verbindung mit dem Verbot, diese bei der Garderobe abzugeben.
Aber in einem Punkt wird es tatsächlich absurd: Cosplayer dürfen keine Waffennachbildungen zu ihren Kostümen mehr tragen. Zwar bin ich selbst kein Cosplayer (mir würden zwar durchaus ein paar Comicfiguren einfallen, in deren Kostüme ich mal schlüpfen würde, aber keine davon trägt ihr Sixpack in einem Speckmantel), aber was soll so was? Entweder macht man das richtig oder man lässt es bleiben.
Ich kann die Bitte nachvollziehen, nicht außerhalb des Messegeländes mit offen getragenen Waffennachbildungen durch die Gegend zu laufen, schließlich könnte das den einen oder anderen erschrecken, der eben nicht weiß, welchen Hintergrund diese Kostümierungen außerhalb des Karnevals haben. Aber auf dem Messegelände? Wo man quasi „unter sich“ ist? Deadpool ohne Schwerter? Thor ohne Hammer? Wolverine ohne Krallen? Echt jetzt? Oder wo genau liegt die Grenze? Immerhin Aussteller dürfen für ihre Aktionen auf der Messe noch Waffennachbildungen einsetzen, unter Auflagen:
Alle Walking Acts und Aktionen, die Nachbildungen von Waffen oder waffenähnliche Gegenstände tragen oder beinhalten, müssen vorher beim Veranstalter angemeldet werden. Nachbildungen von Waffen oder waffenähnliche Gegenstände werden vorab gekennzeichnet und dürfen ab dem Zeitpunkt der Kennzeichnung das Messegelände nicht mehr verlassen und müssen während der Messelaufzeit an den Ausstellerständen verwahrt werden. Der Walking Act darf die Kostümierung erst nach Kennzeichnung und damit entsprechend in den Messehallen vornehmen. Gamescom
Und das alles im Namen der Sicherheit, weil es ist ja alles so gefährlich geworden und ständig Anschläge und Amokläufe und überhaupt. Nö. Unbestritten ist jeder einzelne Anschlag schlimm und einer zu viel. Und natürlich erzeugt die hysterische Berichterstattung über solche Ereignisse – man erinnere sich nur an die Dauerwerbesendungen für angehende Amokläufer während der Ereignisse in München – ein massives Gefühl von „da passiert ständig was“. Die Fakten sind aber andere. Man mag es kaum glauben, aber die Menschen werden immer friedlicher, die Zahl der Gewaltverbrechen sinkt und damit auch das Risiko Opfer eines Gewaltverbrechens oder Kriegs zu werden.
Gewalt ist im Laufe der Geschichte immer weiter zurückgegangen. Und zwar alle möglichen Formen der Gewalt: Kriege, Morde, Folter, Hinrichtungen, Vergewaltigungen, häusliche Gewalt. Diese Dinge gibt es natürlich noch immer. Aber wir dürften heute in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert. Steven Pinker, Evolutionspsychologe
Nun mag der eine oder andere einwerfen, dass das so einfach ja nicht wäre, schließlich kämen ja immer mehr Menschen aus Kriegsgebieten als Flüchtlinge zu uns und bei denen weiß man ja nie und man würde ja jeden Tag lesen, dass da so viele böse Menschen darunter wären, die Supermärkte ausräumen, Frauen belästigen und die einfach jede Menge Kriminalität mitbringen. So was kann man zwar an entsprechenden Ecken im Netz immer wieder lesen, richtig wird die Behauptung dadurch aber nicht:
Und wenn wir das mal betrachten: Die Gewalt nimmt immer mehr ab, bei uns und weltweit, die Berichterstattung über Gewalttaten dagegen erzeugt immer häufiger den gegenteiligen Eindruck. Und kaum passiert eine der immer selteneren Gewalttaten im Namen einer Terrororganisation oder von einer Terrororganisation von sich vereinnahmt, dann laufen alle durch die Gegen wie kopflose Hühner und haben nichts besseres zu tun, als die bei uns geltenden Freiheiten zu beschneiden.
Es sind ja nicht nur die Veranstalter, nein, auch aus der Politik kommen teilweise absurde Forderungen. Mehr Videoüberwachung, um Attentäter abzuschrecken? Klar, jemand, der beabsichtigt einen Anschlag zu verüben oder einen Amoklauf zu starten, den er nicht zu überleben gedenkt, wird durch Videoüberwachung ganz bestimmt abgeschreckt. Man könnte ihn ja anhand der Videos identifizieren und strafrechtlich verfolgen… oh. Ernsthaft, denken manche gar nicht mehr nach, bevor sie sprechen?
Tatsächlich bin ich der festen Überzeugen, dass wir als Gesellschaft gerade mehrheitlich in die komplett falsche Richtung laufen: Statt uns zu überlegen, wie wir durch noch mehr Kontrollen, noch mehr Einschränkungen und noch mehr Überwachung eine Illusion von Sicherheit erzeugen, sollten wir den Terroristen und den Feinden unserer freiheitlichen Gesellschaft den virtuellen Stinkefinger zeigen und unser Leben eben nicht einschränken! Klar kann man angesichts dieser Drohungen Angst haben, die hat sicher jeder, aber man darf der Angst nicht nachgeben, wenn es darum geht, sein Leben zu leben. Die Wahrscheinlichkeit an eigenen Essen zu ersticken ist höher, als die bei einem Terroranschlag zu sterben. Trotzdem hört niemand auf zu essen oder steigt komplett auf pürierte Nahrung aus der Schnabeltasse um, das wäre ja idiotisch. Aber warum soll es dann weniger idiotisch sein, plötzlich nicht mehr zu Konzerten, Messen oder anderen Veranstaltungen zu gehen, bei denen man Spaß hat?
Und ja, es gibt viele Ecken, an denen noch etwas mehr getan werden kann, immerhin wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten an allen Ecken und Enden gespart, eben auch bei der Polizei, da gibt es sicher einiges aufzuholen, aber das würde auch was bringen – im Gegensatz zu Taschenverboten auf Konzerten und Cosplayer-Beschränkungen bei Messen.
Übrigens: Es gibt offensichtlich Medienvertreter, die für diese „Anpassung der Sicherheitsbestimmungen“ durchaus auch auch eine weitere, weniger auf die Sicherheit als mehr auf die Versorgung mit Futter bezogene Motivation zu erkennen glauben:
Aber das ist wahrscheinlich nur ein willkommener Nebeneffekt solcher Verbote, Hinweise und Bitten…
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