Entscheidend für den heutigen Erfolg von Twitter waren wohl die Folgen des Börsengangs 2013. Verkauft wurden die Aktien zu Beginn für 23$, 25$ und schließlich 26$. Am ersten Handelstag explodierte der Kurs von Twitter noch um 73% auf 45$. Bald darauf folgte aber Ernüchterung. Vor rund 6 Jahren verkündete Dorsey die Zahlen des ersten Handelsquartals, bei dem das Unternehmen einen Nettoverlust von 511,5 Mio. $ (damals 467 Mio. €) verzeichnete.
Die folgende Talfahrt hielt bis Ende 2015 an und brachte den Kurs etwa auf das Niveau von 15$. Darauf folgten Übernahmeversuche von u.a. Microsoft, Alphabet und Verizon. Das Management von Twitter war dazu bereit, Twitter zu verkaufen. Letzten Endes stiegen aber alle Interessenten aus. Grund waren auch die missbräuchliche Sprache sowie der rassisstische und sexistische Umgangston auf Twitter. Dieses und zunehmend auch das Fake-News-Problem machten das Investment weniger lukrativ.
Diese Krisenzeit offenbarte aber nicht nur die Missstände an Twitter, sondern auch, dass der Microblogging-Dienst eine Art ungeschliffener Rohdiamant war. Es galt den richtigen Feinschliff zu finden. Die Führung unter CEO Jack Dorsey begann 2016 damit, alles infrage zu stellen. Selbst die 140 Zeichen, die bis dahin zu den festen Statuten von Twitter gehörten, wurden überdacht und sollten zunächst von 10.000 Zeichen abgelöst werden. Ein Plan der verworfen und durch die heutigen 280 Zeichen ersetzt wurde.
Twitter entwarf die Kampagne „It’s what’s happening“ im Jahr 2017. Mit diesem Slogan wirbt das kalifornische Unternehmen bis heute und er wird auch im Metatitel bei Suchmaschinen angezeigt. Das soziale Netzwerk schärfte sein Profil: vom einfachen Microblogging zur Nummer-1 Plattform für „was gerade passiert“. Das Unternehmen brüstete sich damit, die Top News App in Frankreich, Spanien und dem Vereinigten Königreich zu sein.
Exemplarisch für die neue Relevanz war das neue Feature der Live Videos. In den USA national relevante Events konnten live übertragen werden. Die NFL nutzte diese Möglichkeit beispielsweise, um Spiele für zwei Quarter zu übertragen und User zum Anschauen des restlichen Spiels zu bewegen. Eine Praxis, die sich als so erfolgreich herausstellte, dass Twitter sich sogar die gesamten Rechte für die Donnerstagsspiele der NFL sicherte.
Die Taktik, die auch für Modeschauen, politische Events und Unterhaltungsprogramme galt, ging tatsächlich auf. Twitter wurde relevanter und die monatlich aktiven User erreichten erstmals 330 Millionen. Für die Werbetreibenden sollte der bestehende Service ausgebaut und vereinfacht werden. Ein essenzieller Bestandteil des Erfolgs waren auch Kosteneinsparungen, die das Unternehmen hauptsächlich durch Massenentlassungen erreichte. 2015 wurden 8% der gesamten Belegschaft entlassen, im folgenden Jahr waren es sogar 9%.
Das erste Mal konnte Twitter dann ein positives Geschäftsquartal vor ziemlich genau zwei Jahren verkünden. Der Erfolgskurs hält bis heute an und ähnliche Mittel werden bis heute angewandt. Derzeit lässt Jack Dorsey durchblicken, dass der Standort San Francisco wohl verlassen wird. Hohe Steuern, teure Lebenshaltungskosten und der große Abwerbungsdruck konkurrierender Unternehmen würden die Stadt für die gesamte Tech-Szene unattraktiv machen. Remote Work oder Telearbeit ist hier das große Stichwort. Dorsey verkündete im Dezember selbst nach Afrika ziehen zu wollen.
Derzeit vollzieht Twitter noch immer die dünne Gratwanderung zwischen Verhinderung von Hate-Speech und illegitimer Zensur. Ein Schritt dabei war, die sehr kontrovers diskutierte Sperre von politischer Werbung. Dorsey fasste seine Erfahrung mit Twitter einmal so zusammen, dass es „das beste und schlechteste an der Demokratie“ offenbare. Angesichts des derzeit stattfindenden Wahlkampfes in den USA bleibt es also dennoch spannend, wie das Unternehmen sich positioniert und was inhaltlich auf Twitter „gerade passiert“.